Ich bin 36 Jahre alt und habe vor zwei Jahren eine Entgiftung und eine stationäre Langzeittherapie gemacht, da ich mehrfachabhängig bin. Diagnose: Alkohol-, Cannabis- und Amphetaminabhängigkeit. Seit etwas mehr als zwei Jahren lebe ich jetzt rückfallfrei abstinent.
Begonnen hat die Geschichte meiner Sucht 20 Jahre vor meiner Entwöhnung. Ich habe mich schon immer irgendwie anders als die anderen gefühlt und war mit mir selbst nie im Reinen. Deswegen habe ich mich auch immer zu den Leuten hingezogen gefühlt, die offensichtlich auch „anders“ als „normal“ waren. So war ich seit dem Einsetzen der Pubertät, getrieben von dem Drang, mich vom Durchschnitt der Gesellschaft abzusetzen, von einer Jugendszene zur nächsten gewandert, zum Beispiel vom Skater zum Punk oder vom Hip-Hop zum Techno.
Provokation war alles
Hauptsache ich konnte durch mein Äußeres und meine Lebenseinstellung möglichst viele Menschen provozieren. Da ich mich selbst nie mochte, war es mir immer sehr wichtig, dass wenigstens meine „Vorbilder“ mich mochten. Fälschlicherweise war ich früher immer der Meinung, dass ich den Respekt der Leute, die mir wichtig waren, dadurch erreiche, möglichst krass zu sein.
Ich kaufte und verkaufte
Mit 14 Jahren habe ich angefangen, unregelmäßig Alkohol zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Mit 15 Jahren kam das Kiffen hinzu. Geld dafür hatte ich eigentlich noch gar nicht, dafür aber einen sehr großen Bekanntenkreis. Dazu gehörten auch einige Ältere, die schon in der Ausbildung waren, bei denen man regelmäßig mitrauchen konnte. Ich habe versucht, meine Finanzen durch Kleinkriminalität aufzubessern. Ich merkte aber schnell, dass dies sehr müßig und nervenaufreibend war. Bei wesentlich geringerem Risiko habe ich schnell herausgefunden, wie ich mir kurzfristig vorhandenes Geld zunutze machen konnte. Ich kaufte bei den richtigen Leuten zu guten Kursen an, um es dann mit Gewinn im Freundeskreis weiterzuverkaufen.
Mir reichten damals ziemlich kleine Mengen und so habe ich wenigstens meinen Eigenbedarf finanzieren können, ohne mich unnötig strafbar zu machen. Schnell kam in meiner Clique auch das Wissen um Medikamente (Benzodiazepine, Analgetika* oder Psychopharmaka) und alltägliche Substanzen, wie zum Beispiel das Schnüffeln von Reinigungsmitteln hinzu. Diese waren preislich günstiger und konnte man für einen günstigen Kick zwischendurch missbrauchen. Im Gegensatz zum Cannabis habe ich bei solchen Sachen aber immer sehr darauf geachtet, nicht die Kontrolle zu verlieren und sie nur sporadisch konsumiert.
*Die Definition zu "Analgetika" finden Sie hier.
Die nächste Dimension
Mit 16 Jahren hab ich dann irgendwann zum ersten Mal eine Nase Pep (Amphetamin) gezogen und ein Teil (Ecstasy) geschmissen. Diese neue Dimension hatte auf mich einen großen Reiz, da ich zuvor eher beruhigende Sachen konsumiert hatte. Dieses Gefühl von übertriebener Wachheit und Kraft, die psychoaktive Wirkung im Bereich der Sinneswahrnehmung wie Musik und Farben, waren einfach toll. Um die Wirkung zu steuern oder zu beenden, waren aber auch wieder Alkohol und Beruhigungsmittel nötig. Zu diesem Zeitpunkt war das wieder das Prinzip des Eingeladen-Werdens. Selber Geld dafür auszugeben, war ich nicht bereit. Aber hier und da fiel immer mal etwas im Bekanntenkreis ab.
Die Szene war wichtig
Mittlerweile hatte ich mich viel zu sehr auf mein Szeneleben konzentriert, um noch den Anforderungen eines Gymnasiasten gerecht zu werden. Einmal sitzen geblieben war ich schon und außerdem wollte ich sowieso meinen Traumberuf Koch erlernen. Also habe ich mir eingeredet, dass ich mit Abitur eh überqualifiziert wäre und so eher Geld verdiene. Folglich war ich nicht enttäuscht, als mir die Schulleitung empfohlen hat, das Gymnasium nach der zehnten Klasse mit guter Fachoberschulreife zu verlassen.
Daraufhin habe ich mir einen Ausbildungsplatz gesucht und mich durch die Arbeitszeiten in der Gastronomie natürlich von meinen verschiedenen Freundeskreisen etwas distanziert. Ich habe weiterhin täglich Cannabis konsumiert; das war quasi mein persönlicher Standard geworden. Der Alkohol kam durch die Umgebung und die Arbeitskollegen öfter ins Spiel, dafür war ich, was die chemischen Drogen anging, erst mal wieder ruhiger geworden.
Pilze und Kakteen
In meinem alten Bekanntenkreis, den ich von Zeit zu Zeit noch kontaktierte, kamen mittlerweile halluzinogene Drogen ins Spiel. Angefangen mit den pflanzlichen Drogen wie Pilze und Kakteen, bis zu den halbsynthetischen wie LSD und den vollsynthetischen. Nach längerer Beobachtungsphase habe ich damit auch meine Erfahrungen gesammelt, soweit es mein Job und seine Arbeitszeiten zugelassen haben. Mittlerweile hatte ich in der Berufsschule auch die „richtigen“ Leute kennengelernt. Ebenso gab es auf der Arbeit, bedingt durch die hohe Personalfluktuation inzwischen auch viele Arbeitskollegen im Service und der Küche, die konsumiert haben und die ich dadurch auch kennenlernte.
Gegensätzliche Stoffe erforderten Regulierung
Der Alkoholkonsum wurde immer regelmäßiger. Es kam immer öfter vor, dass ich mit den Kollegen auf der Arbeit chemische Drogen konsumiert habe und dementsprechend wiederum mehr gekifft habe, um zu „regulieren“ oder nachts schlafen zu können. In meinem ehemaligen Bekanntenkreis fing es mittlerweile mit den harten Drogen wie Heroin und Kokain an, was dazu führte, dass ich mich bis auf wenige Leute komplett von diesen Kreisen distanzierte. Ich habe Kokain zwar auch genommen, jedoch nur, wenn ich eingeladen worden bin, da es die teuerste Droge überhaupt ist und ich einfach zu geizig dafür war. Heroin habe ich auch ein paarmal geraucht, nachdem ich wusste, wenn es nicht gespritzt und nicht länger als ein Tag am Stück konsumiert wird, nicht körperlich abhängig macht. Dies habe ich aber schnell sein gelassen, weil ich einfach bei zu vielen Bekannten mitbekommen habe, wie die an diesem Dreckszeug vor die Hunde gegangen sind.
Meine erste Frau war abhängig
Nach abgeschlossener Ausbildung habe ich durch die Gastronomie meine erste Ehefrau kennengelernt, die ebenfalls Cannabis und Partydrogen konsumiert hat. Über Beziehungen habe ich eine Anstellung in einer Großküche im öffentlichen Dienst bekommen. Auch dort habe ich natürlich schnell die richtigen Leute kennengelernt und so blieb mein Leben, wie es war. Die Heirat war bedingt durch die Schwangerschaft meiner Frau. In der Schwangerschaft wurde es konsumtechnisch dann etwas ruhiger, auch weil ich meinen Führerschein durch die Drogen verloren hatte und mir Hoffnungen machte, ihn wiederzubekommen.
Die Konsumspirale
Nach der Schwangerschaft war irgendwann klar, dass ich meinen Führerschein bei meiner Aktenlage nicht so ohne Weiteres wiederbekommen würde. Außerdem musste ich möglichst viel Geld verdienen. Da ich für einen Koch sehr humane Arbeitszeiten hatte, habe ich angefangen, noch nebenbei in der Gastronomie zu arbeiten und mehr Geld zu verdienen. Egal wo ich gearbeitet habe, immer waren Leute um mich herum, die konsumiert haben. Damit ich mehr arbeiten kann und trotzdem noch meine Frau mit dem Kind unterstützen konnte, habe ich immer öfter Aufputschmittel konsumiert, um das alles zu schaffen. Dies bedurfte aber auch wieder mehr Beruhigungsmittel und Alkohol, um wieder runter zu kommen und bei Bedarf auch schlafen zu können.
Meine Ehe ist dann irgendwann zerbrochen. Ob an der vielen Arbeit oder unserem gemeinsamen Drogenkonsum, kann ich heute nicht mehr so richtig nachvollziehen. Danach war ich vier Jahre in einer Beziehung mit einer Frau, die ich auch in der Gastronomie kennengelernt habe. Sie hat gekellnert, maßlos Alkohol getrunken und zu keiner „Nase“ Nein sagen können. Diese vier Jahre haben meinem eigenen Konsum natürlich überhaupt nicht gut getan.
Meine zweite Ehefrau war ebenfalls abhängig
Danach habe ich meine zweite Ehefrau kennengelernt. Sie hat auch gekifft, gerne mal ein Näschen gezogen, und wie ich erst später erfahren habe, war sie im Methadonprogramm. Sie wurde dann irgendwann auch schwanger, und ich habe noch mal geheiratet. Mittlerweile hatte ich mich zum stellvertretenden Küchenchef hochgearbeitet, war aber inzwischen auch bei 12 bis 15 halben Liter Bier und vier bis sechs Joints täglich gegen Abend angekommen, um schlafen zu können. Ich brauchte immer öfter tagsüber dann Aufputschmittel, um an stressigen Tagen zu funktionieren.
Mein Chef sprach mich an
Bis dato hatte ich nie Grund, an meinem Leben etwas zu ändern. Ich habe immer funktioniert, in meiner Eigenwahrnehmung zumindest. Ich konnte mich immer über meinen Job definieren, in dem ich echt gut war und der Großteil meines Umfeldes hat auch konsumiert. Mein letzter Chef in der Gastronomie war selbst trockener Alkoholiker und hat mich irgendwann darauf angesprochen, dass ich auffällig sei. Und er mache sich so seine Gedanken. Mir war immer bewusster geworden, dass ich meinen Job nicht mehr so gut machte, um mich zu 100 Prozent erfolgreich über ihn definieren zu können. Mir war aufgefallen, dass ich kein guter Vater mehr war, immer depressiver wurde und immer häufiger unter Angststörungen litt. Inzwischen wurde meine Frau ein zweites Mal schwanger.
Der Entzug war heftig
Ich habe mich dann kurzfristig entschlossen, eine zweiwöchige Entgiftung zu machen. Allerdings ohne direkte Anbindung an eine Entwöhnungstherapie. Der Alkoholentzug war dermaßen heftig, dass ich auf keinen Fall wieder anfangen wollte zu trinken. Ich habe dann prophylaktisch danach wieder angefangen zu kiffen, damit ich nicht wieder anfange zu trinken. Früher oder später kamen dann die ersten Alkoholrückfälle, und das Kiffen hat sehr extreme Ausmaße angenommen. Ich habe dann eine stationäre Langzeittherapie beantragt und genehmigt bekommen.
Mit Abstinenz zum glücklicheren Leben
Nach fünf Monaten hatte ich für mich die Gründe meines Konsums erarbeitet und wusste, was ich alles ändern muss, um ein anderes Leben zu führen. Mittlerweile bin ich in vielen Dingen ein anderer Mensch geworden. Ich habe beschlossen, mich beruflich neu zu orientieren. Und ich lebe allein, weil ich im klaren Zustand nicht mit meiner Frau zusammenleben kann. Ich versuche, ein guter Vater zu sein. Mein abstinentes Leben macht mir Spaß, und ich kann mich selber annehmen. Seit über zwei Jahren lebe ich jetzt rückfallfrei abstinent, und ich besuche regelmäßig die Treffen der Suchtkrankenhilfe der Neuapostolischen Kirche.
1. Januar 2020
Text:
Redaktionelle Bearbeitung: Ute Paul
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