Schon als Kind habe ich immer Tierärztin werden wollen, habe immer gelernt, gelesen, war sehr leistungsorientiert und kontrolliert.
Die durchgeplante berufliche Ausbildung
Direkt nach dem Abitur bekam ich einen Studienplatz und habe mit Ehrgeiz und enormer Disziplin dieses Studium begonnen und in Regelstudienzeit auch beendet. Zwischendrin, tatsächlich nebenbei, kam unser erstes Kind zur Welt. Sogleich begann ich mit der Dissertation. Noch vor Abschluss der Doktorarbeit bekamen wir unser zweites Kind. Zeit für meine Kinder, die Möglichkeit sich in eine Mutterrolle hineinzufinden, ist nicht viel da gewesen.
Ich habe meine eigene Situation aber nie hinterfragt und dabei vergessen, dass auch andere, insbesondere meine Kinder, bei diesem Lebensstil ein wenig auf der Strecke blieben.
Immer auf der Überholspur
Nach Praxisvertretungen und Halbtagsstellen machte ich mich im eigenen Haus selbstständig. Die Praxis lief sofort gut, da ich sowohl tagsüber als auch nachts fast immer erreichbar war. Eine Doppelbelastung mit Praxis, zwei Kindern und großem Haus ist mir aber gar nicht aufgefallen. Außerdem brauchte ich mich bei all der Arbeit nicht selbst zu hinterfragen.
Überhaupt habe ich in dieser ganzen Zeit nie über mich nachgedacht, mal überlegt, ob es mir in meiner Situation gut geht. Ich habe immer funktioniert, war aber emotional gar nicht vorhanden. Und so habe ich meine Kinder großgezogen: ständig auf der Überholspur, ohne besondere Gefühlsregungen oder Highlights, die den Alltag lebenswert machen.
Seither bin ich Junkie!
Irgendwann brach mein Konstrukt aber zusammen: Ich war nicht mehr in der Lage zu funktionieren und wurde krank. Außerdem ist eine solche "seelische Unterernährung" auf Dauer nicht auszuhalten. Ich brauchte eine Möglichkeit, dem Erfolgs- und Leistungsdruck, dem ständigen "angepassten- und fremdgesteuertem" Dasein zu entfliehen.
Als Mediziner hat man ja alle Möglichkeiten. Ich habe angefangen Betäubungsmittel (Opiate, Morphine) zu konsumieren. Doch die Dosis stieg schnell an, Toleranzentwicklung, Nebenwirkungen ... seither bin ich Junkie!
Ich habe viermal entgiftet, war in einer privaten Entzugsklinik, habe ambulante Therapie gemacht. Und jedes Mal bin ich wieder zurück in mein altes Leben: mein geliebter Beruf, meine Praxis, Operationen, Betäubungsmittel und ähnliche Substanzen und immer wieder dem nächsten Rückfall entgegen.
Ich verkaufte meine Praxis ...
Vor fast vier Jahren habe ich meine Praxis verkauft. Das große Haus, das Zuhause meiner Kinder, wurde verkauft und plötzlich stand ich vor den Scherben meines Lebens. Meine Daseinsberechtigung, die ausschließlich mit meinen Fähigkeiten als Ärztin und meinem eigenem Anspruchsdenken zusammenhing, bestand nicht mehr.
In dieser totalen, nicht enden wollenden Lebenskrise habe ich mich erneut in eine Therapie begeben. Ständiges Arbeiten mit BTMn (Betäubungsmitteln), ohne sie zu benutzen, gelang und gelingt mir nicht. Als ich bereit war, diesen Kampf aufzugeben, begann ganz langsam, still und leise ein neues oder anderes Leben ohne Druck mit einer mir völlig unbekannten Freiheit.
... und begann eine Therapie
Seitdem befinde ich mich in ambulanter Psychotherapie. Zu Beginn nahm ich an einer Selbsthilfegruppe (SHG) der Neuapostolischen Kirche in NRW-West teil, danach suchte ich mir eine SHG in Wohnortnähe, die ich seitdem einmal wöchentlich besuche. Außerdem gehe ich zu einem ambulanten Suchtmediziner zu ständigen Urinkontrollen und bin seit meiner Entlassung clean.
Mittlerweile bin ich von meinem Mann getrennt, habe eine völlig andere Stelle in einem Labor, in dem ich noch eine Fachtierarztausbildung mache. Die Woche über lebe ich in Bayern ein selbstbestimmtes Leben.
Neue Prioritäten
Die eigentlich wichtigen Veränderungen sind aber ganz andere:
Mein Selbstbild ist ein völlig anderes: Nicht meine berufliche Entwicklung ist der Erfolg, sondern das gute Verhältnis zu meinen Kindern ist viel wichtiger. Die Tatsache andere Mitmenschen, die Umwelt wahrzunehmen, ohne daran vorbei zu rennen, das ist das eigentlich Wichtige. Ich habe andere Prioritäten: zum Beispiel eine gute Tasse Kaffee am Morgen oder gut gelaunte Kollegen.
Über viele Kleinigkeiten kann ich mich jetzt freuen. Das Wort Genuss ist nun nicht mehr einfach nur eine Worthülse; es gibt viele kleine Highlights im Alltag, die zu genießen sind, so man sie entdeckt.
Ich hatte ein Chance
Vor Jahren hat mir ein Arzt gesagt, dass ich vielleicht mal froh wäre, süchtig geworden zu sein. Darin läge meine Chance. Jetzt kann ich diesen Satz verstehen. Für mich war die Entstehung der Sucht die Chance in ein zufriedenes, selbstbestimmtes Leben, mit Höhen und Tiefen, die ein Nicht-Junkie aber auch hat.
Ich will nie mehr zurück in dieses seelenlose Dasein und damit meine ich nicht die Konsumzeit. Eine Garantie clean zu bleiben, ist das aber nicht. Die Sucht bedeutet ein lebenslanges an sich arbeiten, in sich hineinhören. Ohne psychotherapeutische Unterstützung könnte ich diese Aufgabe gar nicht bewältigen, hätte gar nicht gewusst, wo und wie ich hätte beginnen sollen.
Aber: Die Sucht ist eine Chance!
Redaktionelle Bearbeitung: Ute Paul
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