Ich kannte meinen Mann schon aus Kinder- und Jugendtagen. Rigoberto war stets lustig und gut gelaunt, hatte immer einen Spaß auf den Lippen und kam dementsprechend gut bei uns Jugendlichen an. Im Jahr 1980 kamen wir zusammen und schon bald stand fest, dass wir unseren Lebensweg gemeinsam gehen wollten.
Probleme waren bereits vorhanden
Warnungen meines Vaters und damaligen Gemeindevorstehers, dass Rigoberto schon häufiger betrunken nach Hause gekommen sei und es in seiner Familie deswegen Streit und Ärger gab, schlug ich mit Gegenargumenten aus. Ich dachte, wenn wir erst mal verheiratet sind und er aus seinem häuslichen Umfeld heraus ist, wird sich das schon legen.
Rigoberto arbeitete als Straßenbauer und ich wusste, dass dort getrunken wurde. Damals war das normal und gehörte dazu. Nach Feierabend gab es dann das verdiente Feierabendbier und keiner dachte sich etwas dabei; ich auch nicht. Ende 1981 haben wir geheiratet und das erste halbe Jahr unserer Ehe verlief sehr harmonisch. Alles war in bester Ordnung, wir planten und wollten eine Familie gründen.
Änderung des Trinkverhaltens
Doch dann änderte Rigoberto ganz plötzlich sein Trinkverhalten und zu dem obligatorischen Bier kam fast jeden Abend eine Flasche Schnaps dazu. Alles betteln, schimpfen und heulen brachte nichts, er war jeden Abend sturzbetrunken. Nach einigen Wochen konnte und wollte ich nicht mehr. Mein Vater riet zur Scheidung. Das wollte ich nicht, ich wollte stärker als der Alkohol sein. Ich suchte Rat bei unserem damaligen Bezirksältesten. Er betete mit mir und schlug die Bibel auf; es war unser Trauspruch. Das war für mich das Zeichen: Jetzt wird alles gut. Und tatsächlich, von Stunde an war mein Mann wie ausgewechselt. Wir sprachen uns aus, er ließ den Schnaps weg und wurde wieder der „Alte“.
Die Jahre gingen ins Land, wir bekamen zwei Kinder. Mein Mann wurde Amtsträger, war Dirigent und Orgelspieler, eine richtig schöne neuapostolische Familie. Das Bierchen gehörte nach wie vor zum Abend dazu. Aber solange Rigoberto nicht betrunken war, was natürlich hin und wieder vorkam, hat es mich nicht gestört.
Der Alkohol spielte eine immer größere Rolle
Ende der Neunziger Jahre merkte ich aber, dass der Alkohol eine immer größere Rolle spielte. Ich wusste, dass Rigoberto auf der Arbeit Bier trank, aber nicht wie viel. Abends wurden die Mengen größer und es kamen kleine Schnäpse dazu. Wenn wir zu einer Feier gingen, wurde schon mal vorgewärmt und er sorgte dafür, dass anschließend nach der Feier zu Hause noch genügend zu trinken da war.
Wenn wir Besuch hatten, stand er öfter in der Küche und trank dort zusätzlich noch ein Bier. Der Bierkasten wurde immer schneller leer und je mehr er trank, umso mehr kaufte ich ein. Ich wollte ja nicht, dass er das teure Bier von der Trinkhalle oder Tankstelle besorgt. Was für eine Ironie! Viel später habe ich erfahren, dass man so ein Verhalten als Co-Abhängigkeit bezeichnet.
Co-abhängiges Verhalten
Irgendwann wurde es wieder unerträglich, aber alles bitten und betteln half nicht. Ich ging nirgendwo mehr alleine hin, weil ich Sorge hatte, dass er dann noch mehr trinkt. Ich dachte, wenn ich zu Hause bliebe, könnte ich seinen Konsum bremsen. Vor lauter Sorge wurde ich krank, man fand aber keine körperlichen Ursachen. Auch das sind co-abhängige Symptome und Verhaltensmuster, die ich zu der Zeit aber nicht kannte.
Ich wollte so nicht weiterleben, hatte aber auch nicht den Mut, ihn zu verlassen. Da waren die Kinder, das Haus, die Eltern, die Kirche, die Scham zuzugeben: Ich habe es nicht geschafft, der Alkohol war doch stärker. Nach außen waren wir noch immer die perfekte Familie, aber ich war innerlich zerrissen.
Oft habe ich am Telefon gesessen und wollte mir Hilfe holen, aber wo? Den Vorsteher oder Bezirksältesten anrufen? Ich kam mir wie eine Verräterin vor. Schließlich war er doch Amtsträger und Dirigent. Was passiert, wenn sie ihn von seinem Amtsauftrag entbinden? Wird es dann noch schlimmer? Macht er mich dann dafür verantwortlich? Die Eltern anrufen und mit meinen Problemen belasten? Nein, das wollte ich auch nicht. Ich habe oft geweint und den lieben Gott um Hilfe gebeten und irgendwann hat er es erhört. Spät, aber nicht zu spät.
Der Zusammenbruch des Mannes
Im Herbst 2001 hatte mein Mann einen Zusammenbruch im Gottesdienst und kam von dort aus direkt ins Krankenhaus. Er hatte viel zu hohen Blutdruck und man schloss einen Herzinfarkt nicht aus. Er blieb zur Beobachtung im Krankenhaus und nach drei Tagen fiel er ins Delirium.
Am Mittwochmorgen rief er ganz früh zu Hause an und redete allerlei wirres Zeug, was ich gar nicht zuordnen konnte. Ich machte mich sofort auf und fuhr ins Krankenhaus. Dort nahm mich ein Arzt zur Seite und fragte, ob und wieviel mein Mann trinken würde. Er klärte mich auf und sagte, dass dieses Verhalten ein typisches Anzeichen für einen Alkoholiker sei und er umgehend eine Entgiftung machen müsse. Ich war geschockt und gleichzeitig erleichtert und sagte mir nur: "Endlich ist die Bombe geplatzt!" Jetzt gab es kein Versteckspielen mehr, hier hatte der liebe Gott eingegriffen.
Mithilfe des Arztes organisierte ich einen Platz in einer speziellen Klinik, wo Rigoberto unter ärztlicher Aufsicht und mit Hilfe von Medikamenten einen körperlichen Entzug machen konnte. Auch hier haben wir im besonderen Maße den Engelschutz erlebt, denn Rigoberto wäre in einem erneuten Deliriumsanfall beinahe aus dem Fenster der Klinik gesprungen.
Erster Kontakt zu einem Suchtkrankenhelfer
Während dieses Klinikaufenthaltes bekam ich über unseren Vorsteher einen Kontakt zu einem ebenfalls betroffenen Glaubensbruder vermittelt, der schon seit einigen Jahren trocken war. Dieser Bruder, der bei seinem Arbeitgeber zum Suchtkrankenhelfer ausgebildet worden war, versprach uns zu begleiten. Nach dem Klinikaufenthalt und der Entgiftung kam er einmal in der Woche zu uns nach Hause und gab manche wertvollen Hinweise und Tipps, damit wir nun mit dieser neuen Situation umgehen konnten.
In der Familie traute sich keiner mehr, etwas zu trinken
Rigoberto wollte eine Langzeittherapie machen, die allerdings erst von dem zuständigen Träger genehmigt werden musste. Das dauerte etwa sechs Wochen. In dieser Zeit wollte mein Mann natürlich wieder arbeiten, also wieder zurück in das gewohnte Umfeld. Er wollte trocken bleiben und ich musste lernen, ihm zu vertrauen. Selbstverständlich hatte ich große Angst und kontrollierte heimlich, ob er etwas getrunken haben könnte. Ich vermied es, selber etwas zu trinken. Auch innerhalb der Familie traute sich keiner mehr, alkoholische Getränke auf den Tisch zu stellen. Das machte Rigoberto wütend und er wollte partout, dass ich Wein und Bier einkaufe, wenn wir Besuch bekämen; also lud ich keinen ein.
Erst viel später traute ich mich wieder, mal ein Glas Wein zu trinken, versteckte dann aber die angebrochene Flasche oder kippte den Rest weg. Auch das war wieder völlig absurd, hätte er sich doch an jeder Ecke etwas zu trinken holen können, wenn er gewollt hätte. Ich war also immer noch vollkommen in den co-abhängigen Denkmustern verstrickt.
Im November 2001 war es dann soweit. Rigoberto bekam einen Platz in einer Klinik und machte eine Therapie über vier Monate. In den ersten Wochen gab es feste Telefon- und Besuchszeiten. Ich hatte endlich Zeit zum Aufatmen, das Kontrollieren übernahmen ja andere.
Ich fing wieder an zu leben
Nun merkte ich erst, unter welch einer Anspannung ich gestanden hatte und was für ein schönes Gefühl es war, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Ich fing so langsam an, wieder zu leben und hatte nicht ständig den Druck, aufpassen und kontrollieren zu müssen. Das war eine wertvolle und wichtige Erfahrung, denn heute kann ich sagen: "Diesen Druck will ich nie mehr haben!" Aber noch war nicht alles vorbei.
Am Heilig Abend 2001 kam Rigoberto zum ersten Mal nach Hause und durfte eine Nacht bleiben. Wir haben dieses Weihnachtsfest als Familie ganz besonders genossen.
Im März 2002 war die Therapie beendet und nun begann für mich eine richtig anstrengende Zeit. Mein Mann hatte in der Therapie viel für sich gemacht und war in meinen Augen zunächst völlig auf einem Egotrip. Ich kam mir ziemlich überflüssig vor und mehr als einmal war ich drauf und dran, die Koffer zu packen.
Vertrauen musste aufgebaut werden
Wir besuchten gemeinsam verschiedene Selbsthilfegruppen und lernten dort erst wieder, miteinander zu reden und Vertrauen und Verständnis für den anderen zu bekommen. Ich hörte, dass unsere Situation völlig normal war, anderen erging es ähnlich. Derjenige, der eine Therapie macht, wird auf Level null gefahren und fängt langsam an, in Trockenheit zu leben. Der Partner steht nach wie vor auf Level hundert und muss ebenfalls lernen, wieder zu leben, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und nicht mehr nur für den anderen zu denken.
Das Erlernen neuer Verhaltensmuster
Genauso wie der Alkoholabhängige neue Verhaltensmuster für sich erlernen muss, um trocken zu bleiben, muss der co-abhängige Partner lernen, die alten Verhaltensmuster abzulegen, zum Beispiel das Kontrollieren, das Mitdenken, Arbeit abnehmen, das Entschuldigen und so weiter. Das war ein langer Prozess, der oft sehr sehr weh tat. Auch hier gab es „Rückfälle“, aber es hat sich gelohnt!
Heute ist die Selbsthilfegruppe ein Stück Familie geworden, sie gehört dazu. Wir können mit unserem Beispiel anderen helfen, den Ausstieg aus ihrer Sucht zu finden. Wir können den Angehörigen vermitteln, ihr seid nicht alleine und ihr werdet verstanden. Ich selber werde bei neuen Krankheitsfällen immer wieder an meine damalige Situation erinnert und halte so das Gefühl wach: "So will ich nie mehr leben!"
Hinweis: Der Name wurde von der Redaktion geändert
Redaktionelle Bearbeitung: Ute Paul
Datenschutzeinstellungen
Mit Hilfe einiger zusätzlicher Dienste können wir mehr Funktionen (z.B. YouTube-Video-Vorschau) anbieten. Sie können Ihre Zustimmung später jederzeit ändern oder zurückziehen.
Datenschutzeinstellungen
Diese Internetseite verwendet notwendige Cookies, um die ordnungsgemäße Funktion sicherzustellen. Jeder Nutzer entscheidet selbst, welche zusätzlichen Dienste genutzt werden sollen. Die Zustimmung kann jederzeit zurückgezogen werden.
Einstellungen
Nachfolgend lassen sich Dienste anpassen, die auf dieser Website angeboten werden. Jeder Dienst kann nach eigenem Ermessen aktiviert oder deaktiviert werden. Mehr Informationen finden sich in der Datenschutzerklärung.