Willst du auch einen Bergmannsschluck? So war die Frage, die ich vor meinem ersten Vollrausch mit 13 Jahren mit "Ja" beantwortete. Gestellt hatte sie ein älterer Jugendlicher aus unserer Gemeinde, der mit einigen Jugendlichen aus unserem Kirchenbezirk, über ein langes Wochenende einen Zeltausflug an dem See machte, an dem meine Eltern einen Wohnwagen stehen hatten. Ich habe die Jugendlichen auf ihrem Zeltplatz besucht und war richtig stolz, dass ich einige Zeit bei ihnen bleiben und feiern durfte. Der sogenannte Bergmannsschluck war dann ein zur Hälfte mit Whiskey gefüllter 0,2 ml Plastikbecher. Zusammen mit einigen Schlucke Bier hat das dann gereicht.
Gedankenloser Umgang mit Alkohol
Ich fand diesen Tag toll und auch den Tag danach. Ich hatte ein paar Erinnerungslücken, Nachdurst und einen Kater. Die älteren Jugendlichen aber auch. Ich war jetzt dabei! Keiner hat sich damals, das ist circa 40 Jahre her, etwas dabei gedacht; allerdings sind mir noch zwei damalige Jugendliche bekannt, die auch süchtig geworden sind. Wir waren im Umgang mit Alkohol einfach gedankenlos.
In meinem Elternhaus wurde auch getrunken und das eine oder andere ausgelassene Fest gefeiert. Somit war Alkohol nichts Befremdliches und gehörte irgendwie zum Alltag. Ich habe dann als Kind zu Hause auch schon mal heimlich am Bier oder Wein genippt, wenn die Eltern nichts gesehen haben. Die Bierflaschen im Kasten haben mein Vater und meine Mutter auch nicht nachgezählt. Auch hier lag keine Absicht oder sogar Schuld vor, sondern „nur“ Gedankenlosigkeit. Der Bergmannsschluck war demnach gut vorbereitet.
Ich habe dann eine Lehre im Straßenbau begonnen. Zu jener Zeit ist es auf der Arbeit auch noch normal gewesen, das eine oder andere Bier zu trinken. Wenn die Flüssigkeitsmenge größer wurde, konnte ich aufgrund meiner „Vorkenntnisse“ mit meinen älteren Arbeitskollegen gut mithalten.
Das war dann schon die Zeit, in der ich als 17-Jähriger fast täglich getrunken habe und auch öfter betrunken war. Nicht sturzbetrunken, das war eher am Wochenende der Fall, aber eben angetrunken. Kaum merklich für mich und Andere. Mit dem Mofa angehalten wurde ich „zum Glück“ oder „leider“ nie. Später mit dem Auto auch nicht.
Es entwickelte sich der Experte
Im Elternhaus, im Jugendkreis und in meinem gesamten Umfeld ging es mit dem gedankenlosen Umgang weiter, und ich wurde allmählich zum „Experten“. Wenn es zu Hause nichts zu feiern gab, feierte ich mit Freunden in der Jugend. Wenn die Arbeitskollegen mal nicht tranken, habe ich abends mit Freunden außerhalb der Kirche getrunken.
Irgendwann habe ich dann angefangen, ab und zu alleine zu trinken. Zu Hause, wenn die Eltern nicht da waren, alleine in einer Kneipe, oder ich habe mir an der Trinkhalle Bier und Jägermeister gekauft und bin damit an ein Baggerloch oder zu einem Waldparkplatz gefahren. So haben alle in meinem Umfeld gewusst, dass ich trinke, aber nicht wie viel.
Meine ständige, leichte Fahne wurde somit für mich und mein Umfeld normal. Und weil ich außer bei Feten und Festen nicht offensichtlich betrunken war, hat das auch niemanden gestört. Zumindest hat mir keiner etwas gesagt. Dieses System habe ich bis zum Schluss beibehalten und immer weiter perfektioniert.
Mit 21 Jahren, kurz nach meiner Wehrzeit, in der ich selbst für meine damaligen Verhältnisse, überdurchschnittlich viel getrunken habe, bin ich dann mit meiner Frau zusammen gekommen. Wir kannten uns seit unserer Kindheit, sind zusammen in die Sonntagschule gegangen und sind auch zusammen konfirmiert worden. Sie hat mich schon in der Jugend trinkend kennen gelernt und der gedankenlose Umgang mit Alkohol war ihr aus ihrem Elternhaus auch nicht fremd, und somit war ich für sie niemand, der auffallend viel trinkt.
Ich hatte ja auch mein bewährtes System. Trinke immer mit verschiedenen Personen, zu verschiedenen Anlässen oder allein und verheimliche unter allen Umständen die Trinkmenge. Der klassische Weg eines Spiegeltrinkers.
Die Familie kam hinzu
Wir haben dann geheiratet und zwei Kinder bekommen. Meine Frau ist zunächst zu Hause geblieben und hat die Kinder großgezogen. Ich habe mich weitergebildet und die Meisterprüfung als Straßenbauer abgelegt. Wir waren nicht besonders reich, hatten aber finanziell zunächst keine große Not
In der Kirche war ich auch immer sehr aktiv. „Arbeiterabend“, Chor, Jugendbetreuer, später Dirigent und Unterdiakon. Gleichzeitig hat sich meine Trinkmenge ständig erhöht, und ich denke es gab seit meinem 20. Lebensjahr keinen Tag, an dem ich nicht getrunken habe. Tagesration zu dieser Zeit: fünf bis sechs Flaschen Bier und zwei Jägermeister.
Freitags nach der Ämterstunde wurde dann so richtig Gas gegeben. Der Samstag war der Tag, um den Nachdurst zu stillen und für den Sonntagmorgen „auszudünsten“. Sonntagnachmittag wieder nachlegen. Ab diesem Zeitpunkt, ich war circa 30 Jahre alt, blieb die Familie schon mehr und mehr auf der Strecke, obwohl das keiner, auch meine Frau und ich, bewusst wahrgenommen hätte. Ich habe auch immer noch „funktioniert“. In der Kirche, auf der Arbeit, in der Familie, in der Nachbarschaft und im Freundes- und Bekanntenkreis.
Der Spiegeltrinker
Und doch war ich spätestens ab hier Alkoholiker. Ein Spiegeltrinker, der nicht mehr in der Lage ist, einen Tag ohne eine bestimmte Menge Alkohol auszukommen. Nur klar war das noch keinem.
Durch die Toleranzentwicklung musste ich die Trinkmenge immer weiter steigern, um nicht unter eine bestimmte Promillegrenze zu fallen und damit Entzugserscheinungen zu bekommen. Um nicht zu zittern und nach außen hin nervös zu wirken, benötigte ich täglich eine so große Menge Alkohol, dass ich in Gefahr geriet, schnell volltrunken zu sein. Der Spielraum zwischen Entzug und Volltrunkenheit wurde so eng, dass ich die Balance nicht immer hin bekam.
Also kam ich jetzt öfter morgens, vor allem sonntags, in den Entzug, und war auch tagsüber auf der Arbeit oder abends und am Wochenende zu Hause, offensichtlich betrunken. Wie komisch das sich auch anhören mag. Mir war damals nicht bewusst, dass ich Alkoholiker bin. Geahnt habe ich aber etwas.
Schlechtes Gewissen gegenüber Gott und der Gemeinde
Vor allem der Gemeinde und dem lieben Gott gegenüber hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich wusste innerlich, dass mein Trinkverhalten und meine Aufgabe als Amtsbruder „irgendwie“ nicht zusammenpassen. In diese Zeit fallen auch die ersten zaghaften, halbherzigen Gebete, dass der liebe Gott etwas ändern soll.
Dann bin ich aber als Diakon gerufen worden, und ich habe ernsthaft gedacht: „Wenn du jetzt Diakon wirst, dann kann das mit deinem Trinken ja auch nicht so schlimm sein.“ Das ist dann immer so weiter gegangen: Steigerung der Trinkmenge, Ausloten zwischen Entzug und Vollrausch, funktionieren in Familie, Kirche, Arbeit und Umfeld und das schlechte Gewissen.
Mittlerweile war meiner Frau bewusst geworden, dass mit mir etwas nicht stimmt. Sie hat mich öfters gebeten, nicht so viel zu trinken. Sie hat mir aber auch gleichzeitig die Kästen Bier nach Hause geholt, weil das preiswerter war, als meine eigenen Einkäufe an der Trinkhalle oder an der Tankstelle.
Nicht zu begreifen! Das ist aber klassisches Co-abhängiges Verhalten. Das Geld war aufgrund meines Alkoholkonsums knapp geworden. Der Dispositionskredit des Girokontos war immer bis zum Anschlag ausgeschöpft, kein Urlaub, keine größeren Anschaffungen. Nur das Nötigste und der Alkohol waren gerade so eben noch finanzierbar. Meine Frau ging wieder arbeiten.
Ist ja alles nicht so schlimm
Das schlechte Gewissen wuchs. Die Gebete, dass Gott helfen möge, wurden inniger und ernster, meine Frau kam mit „Kreislaufproblemen“ ins Krankenhaus, und ich wurde auch noch Bezirksjugendchordirigent. Ausgerechnet ich! "Dann kann ja alles nicht so schlimm sein", habe ich mir vorgelogen.
Mein Tagesablauf
Mit 41 Jahren war ich dann so weit, dass ich täglich circa 10-15 Flaschen Bier und vier bis sechs Jägermeister getrunken habe. Üblich war folgender Tagesablauf: Morgens gegen 5.30 Uhr aufstehen und ins Bad, in dem ich zunächst immer würgen müsste. Dann schnell zur Arbeit, meine Mitarbeiter einweisen und schnell in mein Meisterbüro, in dem ich den ersten Schluck Bier nehmen konnte. Um 8 Uhr hatte ich die ersten zwei Flaschen getrunken, und die Gefahr des Entzugs war vorerst gebannt.
Über den Tag verteilt bemühte ich mich, zwischen Entzug und Rausch die Waage zu halten. Mittags bin ich nach Hause gefahren und habe während des Essens noch ein Bier getrunken. Gegessen habe ich nicht, weil ich Hunger hatte, sondern weil ich gedacht habe, das verdeckt meine Fahne. Dann schnell noch eine halbe Stunde geschlafen, damit ich für die Kirche und die Glaubensgeschwister fit bin. Duschen, Zähne putzen, Mundwasser gurgeln, Rasierwasser und Deo drauf, Kaffee trinken, Pfefferminz und/oder Lakritz eingeworfen und eingesteckt.
Ab zur Kirche. Nach den kirchlichen Aufgaben schnell an Tankstelle oder Trinkhalle vorbei und Bier und vier Jägermeister geholt. Zwei Jägermeister habe ich immer auf der Fahrt nach Hause getrunken, zwei dann öffentlich zu Hause. Das gute alte System. Dann wurde ferngesehen und noch zwei Biere getrunken bis meine Frau gegen 22.30 Uhr ins Bett gegangen ist. Wenn sie im Bett war, habe ich noch bis circa 1 Uhr weiter getrunken, um morgens keinen zu starken Entzug zu haben, weil ich sonst während des Schlafens zu viel Alkohol abgebaut hätte. Der nächste Tag fing dann wieder mit Würgen an.
Wenn ich merkte, dass ich auf der Arbeit zu viel getrunken hatte und schon anfing zu schwanken, und bis Feierabend nicht mehr zu regeln war, habe ich öfter Überstunden gemacht und brauchte somit nicht zur Kirche. Damit hat mich kein Seelsorger betrunken gesehen und ich hatte mir für diesen Abend eine Entschuldigung erlogen.
Ich konnte nicht mehr
Ich konnte dann auch irgendwann nicht mehr. Körperlich hätte ich das vielleicht noch etwas ausgehalten. Aber innerlich war ich am Ende. Ich wollte nicht mehr lügen. Ich wollte meinen Kindern, meiner Frau, den Glaubensgeschwistern, meinen Seelsorgern, meinem Arbeitgeber und meinem ganzen Umfeld wieder in die Augen schauen können. Und vor allem, mir selbst.
Und doch habe ich immer noch irgendwie so funktioniert, dass keiner, außer meiner Frau, Grund genug gesehen hat, mich anzusprechen. Oder es hat sich einfach keiner getraut. Im Nachhinein kann ich sagen, dass mir eine persönliche Ansprache zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall geholfen hätte.
Meine Gebete wurden immer verzweifelter, und ich habe gehofft und gedacht, dass der liebe Gott mir durch einen Seelsorger Hilfe schickt. Das hat er aber nicht getan. Es ist kein Seelsorger gekommen und hat mich „errettet“. Ich weiß heute, dass ich damals eine falsche Erwartungshaltung in diese Richtung hatte. Der liebe Gott hat mir aber zwei Engel in Gestalt von zwei Glaubensschwestern geschickt, die im Rahmen eines Gottesdienstes eine Situation herbeiführten, die mir die Entscheidung mich zu öffnen ermöglichte und erleichterte.
Dann kam der Entzug
Seit diesem Sonntagmorgen im September 2001 trinke ich nicht mehr. Genauso wie der Bergmannsschluck vorbereitet war und eventuell eine Entwicklung unterstützt hat, so hat sich auch mein innerlicher Ausstieg aus der Sucht über Jahre entwickelt. Als es dann so weit war, hat mir der liebe Gott zur Unterstützung meines Wunsches und Vorhabens Engel geschickt.
Nicht die Engel, die ich erwartet habe, sondern die, die ich brauchte.
Den Ausstieg selbst bin ich dann mit professioneller Hilfe angegangen. Das hieß 14-tägige Entgiftung und 16-wöchige Entwöhnung in Fachkliniken. In dieser Zeit bin ich nicht in die Kirche gegangen und wollte auch keinen Besuch von meinen Segensträgern. Ich war ein bisschen böse und enttäuscht von ihnen und wollte mir selbst erst einmal klar machen, wo ich glaubensmäßig stehe. Ich war mir aber immer der Nähe Gottes bewusst und hatte nie vor, die Kirche zu verlassen.
Später, als ich mich ein wenig beruhigt hatte, und mich wieder bewusst mit der Kirche beschäftigen konnte, habe ich in den ersten Gottesdiensten erlebt, dass sich Gott in der Neuapostolischen Kirche offenbart und dazu Seelsorger eingesetzt hat. Ihre Aufgabe ist es, Seelsorge auszuüben und nicht Suchtkrankenhilfe.
Ich hatte da eine falsche Erwartungshaltung. Das soll nicht heißen, dass Seelsorger die Augen vor der Suchtproblematik verschließen sollen, oder sich einfach, aus welchen Gründen auch immer, nicht kümmern. Eine direkte Ansprache aus der „richtigen“ Motivation heraus, zusammen mit dem „richtigen“ Ton, hat immer eine positive Wirkung auf die Motivation des Süchtigen, etwas für sich zu tun. Vielleicht nicht sofort, aber sie trägt auf jeden Fall bei der Entwicklung zum Ausstiegswillen des Süchtigen bei.
Seit der Entlassung aus der Entwöhnung im Jahr 2002 habe ich regelmäßig verschiedene Selbsthilfegruppen besucht. Seit 2003 besuche ich eine Gruppe innerhalb der Neuapostolischen Kirche.
Ich bin nun trockener Alkoholiker
Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen und meine Gebete sind erhört worden. Ich kann jetzt wieder jedem in die Augen sehen; vor allem mir. Seit 2005 trage ich das Priesteramt und stehe zudem Seelsorgern, wenn Fragen um die Sucht aufkommen, gerne zur Verfügung, falls sie das wollen. Meine Frau und ich sind zusammengeblieben, und sie besucht mit mir gemeinsam eine Selbsthilfegruppe innerhalb der Neuapostolischen Kirche.
Mit meinen Kindern habe ich wieder ein gutes Verhältnis. Ich bin nun trockener Alkoholiker. Ein Alkoholiker, der nicht mehr trinkt. Und ich muss sagen, ich fühle mich wohl in meiner Haut. Natürlich gibt es, wenn ich auf die Zeit des Alkoholkonsums zurückblicke, Vieles, was mir unangenehm und peinlich ist. Und doch gehört es zu mir, hat die Entscheidung zum Ausstieg forciert, und deshalb möchte und werde ich es auch nicht wegtun. Der liebe Gott war auch in dieser Zeit bei mir. Und wer hat schon gar keine Dinge, die einem im Nachhinein peinlich sind.
Ich bin wieder da!
Redaktionelle Bearbeitung: Ute Paul
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